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  Staatsoper Hamburg 26.01.2007 
Bild n/1152 Simone Young
© Staatsoper Hamburg
Ein Appell an die Menschlichkeit

Frau Young, Strauss und Wagner gehören zu Ihren bevorzugten Opernkomponisten. Warum haben Sie »Die Frau ohne Schatten« als erstes Werk dieser beiden Komponisten in einer Neuinszenierung auf den von Ihnen verantworteten Spielplan gesetzt?

Simone Young: Das war zunächst eine ganz pragmatische Entscheidung. Wir haben von den wichtigen Wagner-Opern hier im Hause gelungene Inszenierungen. Und der »Ring« braucht selbstverständlich viel mehr Vorbereitungszeit. Von Richard Strauss haben wir eine gute »Salome« im Repertoire und eine zwar alte, aber schöne »Elektra«-Inszenierung. »Die Frau ohne Schatten« war die interessante große Strauss-Oper, die in unserem Repertoire fehlte. Dann gibt es natürlich weitere Faktoren, die meine Entscheidung für dieses Stück beeinflusst haben: Ich wollte unbedingt Lisa Gasteen als Färberin haben. Und ich wollte mit dem Regisseur Keith Warner arbeiten. Beide waren zu dem geplanten Zeitpunkt frei. Und das Stück passte auch inhaltlich gut in diese Saison. Zu Beginn der Spielzeit hatten wir mit »L’Upupa« ein arabisches Märchen, die »Frau ohne Schatten« basiert auf einem chinesischen Märchen, und auch John Neumeiers »Parzival«-Ballett entstammt der Mythen- und Sagenwelt.

Was begeistert Sie an dieser Oper?

s. y.: »Die Frau ohne Schatten« ist eine meiner Lieblingsopern. Vielleicht klingt das etwas naiv: Ich bin ein eher optimistischer Mensch, und die meisten Opern, mit denen wir zu tun haben, sind tragisch und haben selten ein Happy End. Es ist ein typisches Merkmal für Märchen – und das gilt besonders für »Die Frau ohne Schatten« –, dass darin das Leben zunächst in Katastrophen zerfällt und dann ein versöhnliches Ende stattfindet. Das gefällt mir an der Geschichte. Musikalisch ist »Die Frau ohne Schatten« eine der zauberhaftesten und facettenreichsten Partituren, die Strauss je komponiert hat. Da ist so viel Licht darin! Dieser kristalline Orchesterklang, mit der die Geschichte von Kaiser und Kaiserin erzählt wird, begegnet einem von Anfang an in der Partitur. Für einen Dirigenten, der sich gerne mit Farbnuancen und Schattierungen beschäftigt, ist dieses Werk wie eine Spielzeugtruhe, in der man alles finden und ausprobieren kann. Ich betrachte »Die Frau ohne Schatten« sogar als eine Art Pendant zum »Midsummer Night’s Dream«, den wir in der letzten Spielzeit herausgebracht haben. Von der musikalischen Konstruktion her sind die Partituren sehr ähnlich, aber Britten entwickelt das Kleinformat und Strauss das Riesenformat. Ich habe bereits mehrere Inszenierungen dirigiert: die David-Hockney-Inszenierung in Melbourne, die Robert-Carsen-Inszenierung, die 1999 mit Sinopoli in Wien Premiere hatte und die ich ein Jahr später übernahm, dann die alte Münchener Inszenierung sowie die konzertante Aufführung hier in Hamburg. Das ist also meine fünfte »Frau ohne Schatten«, und das innerhalb von zehn Jahren! Das spricht für sich.

Warum nimmt diese Oper von je her einen geringeren Platz im Bewusstsein der Opernbesucher ein, als ihr zusteht?

s. y.: Ich glaube, es liegt zunächst daran, dass die Realisierung dieser Oper einen so großen künstlerischen und technischen Aufwand benötigt und sie aus dem Grund vorwiegend in größeren Häusern gespielt werden kann. Man hat fünf Hauptrollen, die alle hochkarätig zu besetzen sind. Auch ist sie für den Dirigenten eine riesige Herausforderung – viel größer als »Elektra« oder »Salome« –, allein durch die Länge: Es sind drei Stunden reine Musikzeit. Voraussetzung ist natürlich auch, dass man über ein erstklassiges Orchester verfügt und dass man im Spielplan genügend Freiraum findet, das Werk sorgfältig einzustudieren. Darum wollte ich es nah an den konzertanten Aufführungen dieser Oper vor zwei Jahren spielen, da diese Einstudierung noch im Bewusstsein der Musiker verankert ist. So brauche ich am ersten Probentag nicht bei Punkt null zu beginnen und kann mich intensiver dem Feinschliff widmen.
Um mit dieser Oper erfolgreich zu sein, braucht man außerdem einen guten Regisseur, der mit den Anforderungen des Stückes umzugehen weiß. Es hat zwar eine klare Dramaturgie, aber wie Strauss/Hofmannsthal bereits in »Ariadne« so schön sagen: »Es sind Längen in der Oper«, das gilt vor allem für die Musik. Das sind keine schlechten Strecken, aber sie sind gefährlich, wenn sie nicht szenisch sensibel und klug gefüllt werden. Sonst kann das zu einer faden Geschichte führen. Es ist immens wichtig, dass man für »Die Frau ohne Schatten« den richtigen Partner in der Regie hat. Es gibt solche speziellen Stücke. Ich habe noch nie eine schlechte »Salome« oder einen schlechten »Wozzeck« gesehen, weder eine schlechte »Lady Macbeth von Mzensk« noch einen schlechten »Billy Budd«. Das sind Stücke, die regiefreundlich konzipiert und klar zu erzählen sind. Aber ich habe zum Beispiel kaum jemals einen gelungenen »Don Giovanni« oder einen guten »Trovatore« gesehen. Manche Stücke sind vom Stoff her faszinierend, aber sie brauchen eine kluge Regie mit einer klaren Linie.
»Die Frau ohne Schatten« ist ein eher filmisch konstruiertes Stück. Die Geschichte zwischen Kaiser und Kaiserin passiert gleichzeitig mit der von Färberin und Färber, die sich verloren haben. In diesem Stück ist die Färberin die Zentralfigur, aber die Titelpartie, die »Frau ohne Schatten«, ist die Kaiserin. Die ganze Geschichte dreht sich darum, dass sie lernt, ein Mensch zu werden. Es ist eigentlich nichts anderes als eine groß besetzte »Zauberflöte«.

Die Anfangsidee der beiden Autoren war ja auch, dass es eine Art »Zauberflöte« werden sollte. Aber warum findet das Publikum einen weniger leichten Zugang zu dieser Oper? Die Handlung ist doch nicht komplizierter als die einer Mozart- oder Händel-Oper.

s. y.: Ich glaube, da sind Vorbehalte zu überwinden. Man sagt: Das Stück ist lang, das werde ich nicht verstehen, es ist sowieso nur ein Märchen, das hat mit echten Menschen nichts zu tun. Man muss die Leute dazu ermutigen, einen Vorstellungsbesuch zu wagen, denn wenn sie erst einmal kommen, sind sie begeistert. Es gibt in der ganzen Strauss’schen Literatur kaum ein schöneres musikalisches Thema als das des Kaisers im zweiten Akt. Es ist atemberaubend schwer und schön. Man ist in diesem Wirbel drin, und dann kommt ein Cello-Solo, dessen pure Schönheit einen aus dem Sitz reißt. Diese Oper ist ein unglaublicher Wurf. Ein Teil der Verantwortung auf dem langsamen Weg zur Akzeptanz, glaube ich, liegt auch bei den Dirigenten. Es ist üblich, am Beginn der Oper viel zu streichen und zusammenzustückeln, und damit ist der große Bogen schon verloren gegangen. Jetzt ist es das erste Mal, dass ich das Stück ohne Striche spiele. Mir war von Anfang an klar, dass man dieses Werk eigentlich so spielen muss. Erst damit wird die Architektur des Stückes deutlich. Wenn man es ungestrichen spielt, sind der Aufbau und vor allem der Abbau der musikalischen Teile organisch und stimmig. Bei den Strichen hat man häufig die Phasen des Aufbaus erhalten und die des Abbaus verkürzt und zerstört. Das ist so, als würde man eine Kathedrale bauen, bei der die Stützen auf einer Seite stärker sind als auf der anderen. Das kann nicht stabil sein, und egal wie schön man es findet, man fühlt sich nicht hundertprozentig wohl. Diese Architektur ist bei Strauss das Alpha und Omega.

Welche Funktion haben die Zwischenmusiken? Dienen sie ausschließlich der Strukturierung der Handlung?

s. y.: Ich glaube, es war bei »Elektra«, als die Musiker zu Strauss sagten, ›das können wir nicht spielen‹, und er geantwortet hat, ›man muss nicht alles spielen‹. Genau so könnte man es mit diesen Zwischenspielen halten. Sie sind jedoch so unglaublich virtuos geschrieben, dass ich nicht auf sie verzichten möchte. Wenn man das Stück in der Originalbesetzung spielt, sitzen 110 Menschen im Orchestergraben. Das ist kaum vorstellbar. Da sind exotische Instrumente dabei, die man sonst nie in klassischen Werken hört, Glasharmonika zum Beispiel, chinesische Gongs, Xylophon, Kastagnetten, Wind- und Donnermaschine. Es ist die einzige Oper, glaube ich, in der zwei Celestas vorkommen. Die zweite Celesta kommt nur am Ende des zweiten und am Ende des dritten Aktes zum Einsatz. Das musste ich als junge Korrepetitorin in Köln aus dem Off spielen, weil die zweite Celesta nicht mehr in den Orchestergraben passte.
In diesen Zwischenspielen nimmt Strauss uns mit auf eine Reise. Man fühlt sich wie in einem Film, und ein bisschen ähneln sie Wagners »Rheingold«. Man startet von dieser im Himmel schwebenden kristallinen Elfenebene und stürzt dann wie ein Komet auf die Erde; dort hört sich die Musik plötzlich sachlich und bodenständig an. Mit banalsten Tonarten zeigt uns Strauss: Hier sind wir wirklich in einer Hütte angekommen, in einem kleinen Dorf, bei einfachen Menschen. Dann zeigt er uns, wie groß und gütig das Herz des Barak ist.
Mir gefällt besonders das Zwischenspiel im zweiten Akt. Auch die große Cello-Nummer vor der Kaiserszene mag ich sehr und vielleicht noch mehr die Szene mit dem Albtraum der Kaiserin, denn ohne dass es programmatisch wird, reißt uns die Musik in einen Strudel von Ängsten, Schmerzen und Albträumen, aus denen man nur mit Schrecken erwacht. Ich kann nicht sagen, wie er das macht; Strauss gräbt sich hier in die Gehirnzellen der Menschen, die ihm zuhören. Ich brauche immer wahnsinnig viel Kraft, wenn ich dieses Stück dirigiere, und damit meine ich nicht physische Kraft. Ich schlafe meistens sehr schlecht, wenn ich »Frau ohne Schatten« dirigiere, denn die Musik bohrt sich in das Unterbewusstsein.

Anfang des 20. Jahrhunderts sorgte die Methode der Psychoanalyse für großes Aufsehen. Dichter und Komponist kannten natürlich die Schriften Sigmund Freuds. Hofmannsthal schätzte an Strauss besonders die Fähigkeit, dass er seelische Verwandlung als tönendes Geschehen fassbar machen konnte. Können Sie das beschreiben?

s. y.: Die Verwandlungsmusik von der Geister- zur Menschenwelt könnte man auch als plakativ bezeichnen, aber bei den Figuren spürt man doch, wie sie sich verwandeln. Das Verhalten der Amme beispielsweise wird während des Geschehens viel direkter, und sie gerät immer mehr in innere Not. Die Kaiserin, die uns zunächst als fragiles Wesen vorgestellt worden ist, wird immer stabiler. Zuerst wird sie durch ihre Unsicherheit menschlicher.
In der Welt des Kaiserpaares hört man anfangs hohe Streicher, Flöte, Glockenspiel, Triangel – alles, womit wir Kristall, Transparenz, Licht verbinden. Das Instrument des Kaisers ist das Cello, das der Kaiserin ist die Solo-Geige. Vom Anfang bis zum Schluss. Aber so plakativ, wie es scheint, ist die Musik dann doch wieder nicht. Wenn man sich das heutzutage als Film vorstellte, würde eine Figur sich vor den Augen der Zuschauer von einem Menschen in einen anderen verwandeln. Man könnte in jeder Sekunde Halt machen und dann nicht sagen, an welcher Stelle sich das Bild verändert, aber es geht von hier bis dort, und das macht die Musik auch.

Das Werk entstand in einer Zeit, da der Erste Weltkrieg ganz Europa erschütterte. Strauss erwähnte, er habe die Oper in »Kummer und Sorgen während des Krieges vollendet«. Sie sei ihm Weltflucht und Rettung gewesen. Kann man diese Oper als eine Art Plädoyer für die Menschlichkeit deuten, oder spiegelt sie vielmehr Weltflucht, das so genannte L’Art pour l’Art wider? Findet man hier überhaupt Aspekte, die auf die Umstände der Entstehungszeit dieser Oper hindeuten?

s. y.: Es wird Strauss immer wieder vorgeworfen, sowohl bei diesem Stück als später auch bei »Capriccio«, dass er von seiner Umgebung, von seiner Zeit gar nicht berührt wurde und dass er sich in seine Kunst geflüchtet hat. Das ist aber Unsinn.
Das Stück ist ein Appell an die Menschlichkeit. Grausamkeit wird nicht toleriert, sie existiert aber. Die Grundidee ist, dass die Kaiserin sich opfern muss, um Mensch zu werden. Das liegt dem christlichen Glauben zugrunde, wie auch anderen monotheistischen Religionen: Nur indem man seine eigenen Interessen und Wünsche opfert, wird man zum vollkommeneren Menschen. Das ist die deutliche Aussage dieses Stückes.
Jede Figur in diesem Stück lernt etwas. Der Kaiser lernt, weniger naiv und arrogant zu sein. Er ist zu Beginn selbstgefällig und selbstzufrieden, sein Leben ist wunderbar, und so soll es auch bleiben. Die Amme ahnt schon zu Beginn, dass die Kaiserin Mensch werden wird, und sie wird im Laufe des Stückes immer hysterischer. Die Kaiserin lernt das Mitfühlen mit den Menschen, was sie selbst zunächst völlig überrascht. Barak ist ein Mensch mit großem Herzen, aber wenig Verstand und Feingefühl. Darum kann man die Wut und den Frust der Färberin auch nachvollziehen. Ich finde es toll, dass keine der Hauptfiguren in dem Stück schwarz-weiß gezeichnet ist. Die haben alle ihre Macken. Das ist auch ein Appell an Verstehen und Verzeihen.

Die Figurenkonstellation in der Oper, »zwei Welten, zwei Menschenpaare, zwei Konflikte« (Hofmannsthal) ist aber keine gleichberechtigte. Die Frauen sind die eigentlichen Protagonisten: Sie treiben die Handlung voran, ihr Weg ist es, der in erster Linie beschrieben wird, und sie sind diejenigen, die geprüft werden. Die Läuterung der Färberin und die Verklärung der Kaiserin am Ende der Oper sind beides Prozesse, welche die Position der Frau innerhalb einer männlichen Ordnung festschreiben. Am Ende steht nicht ihre Unabhängigkeit, sondern ihr Eingebundensein im hierarchisch strukturierten männlichen Kosmos. Die Frauen haben das ihnen zugedachte Los akzeptiert.

s. y.: Dieser hierarchisch strukturierte Kosmos wird ja von Keikobad gesteuert, einer mächtigen männlichen Figur, die man nicht sieht. Auch Färber und Kaiser machen einen Prozess durch, wenn auch nicht so vordergründig wie die Frauen. Strauss hat immer besser für Frauen geschrieben als für Männer. Die Musik für Barak ist grandios, auch die für den Kaiser, aber man merkt, dass er diesen unglaublichen Vorrat an Ideen für die weibliche Stimmen hat. In allen seinen Opern sind die Frauenpartien immer schöner, größer, umfangreicher, interessanter als die der Männer. Die Marschallin etwa ist eine der allerschönsten Figuren der Opernliteratur. Es ist eine besser gebildete »Figaro«-Gräfin, voller Menschlichkeit, voller Noblesse, voller Schönheit, Philosophie und Selbstironie.
Darum sehe ich nicht, dass sich diese Oper gegen die Frauen richtet, zumal wenn man sie im Kontext ihrer Entstehungszeit betrachtet. Es geht hier um den Wunsch, an einen Menschen gebunden zu sein, um den Wunsch nach Kindern, es wird eigentlich dem Traum der Zeit Ausdruck verliehen. Es geht um den Wunsch nach Vollkommenheit, und das ist nicht negativ. Ich finde, es ist ein modernes Stück. Es dreht sich um Frauen, die nicht wissen, was sie wollen. Und noch eines fasziniert mich : Strauss – das ist meine ganz persönliche Meinung – hat in einer Zeit komponiert, die sehr maskulin und chauvinistisch war, doch er schrieb für Frauen wie kaum ein anderer Komponist, vielleicht höchstens noch Puccini. Die zentralen Figuren fast aller seiner Opern sind tolle Frauen. Lisa Gasteen – die bei mir schon einmal die Kaiserin interpretiert hat – sagte damals: »Eine so schwere Partie wie die Kaiserin habe ich noch nie gesungen.« Inzwischen hat sie mehrmals Brünnhilde gemacht und singt jetzt in Hamburg die Färberin. Und wieder sagte sie: »So schwer wie diese Partie ist keine, aber sie ist immer sangbar.«

  Sonstige Informationen

Quelle: "Journal" - Februar März, Ausgabe 4, 2006/07 - © Staatsoper Hamburg, www.hamburgische-staatsoper.de.




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